Schillerpreis der Stadt Mannheim überreicht
„Emine Sevgi Özdamar ist zweifelsohne eine Ausnahmekünstlerin. Ihr künstlerisches Schaffen umfasst mehrere Sparten. Neben der Literatur zählen auch Schauspiel und Regie dazu. Sie übt ihre Kunst in einer Sprache aus, die sie sich im Rahmen ihrer künstlerischen Entwicklung angeeignet – ja, zu Eigen gemacht hat. Sie erweitert dabei die Kapazität und Varianz der deutschen Sprache in der ihr eigenen kunstfertigen Weise und bereichert sie“, sagte Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz in seiner Rede im Rahmen des Festakts, bei dem Emine Sevgi Özdamar der Schillerpreis 2022 der Stadt Mannheim überreicht wurde. „Sie dringt in Ausdrucksbereiche der Sprache vor, die sich nur jenen offenbaren, für die die verwendete Sprache Fremdes und Eigenes zugleich ist.“ Özdamars Biografie sei geformt vom ständigen Wechsel der Lebens- und Arbeitsorte, vom Ankommen und Zurechtfinden – stets verknüpft mit einer Konstante: Kunst.
Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der siebziger Jahre ging sie nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Sie war eine der ersten Schriftstellerinnen aus der Türkei, die auf Deutsch schreibt.
Die Laudatio hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Dass man Grenzen akzeptieren muss, dass man sie aber auch überschreiten, überwinden, sich von ihnen befreien und über sie hinwegsetzen und dann sehr frei sein kann, das gehört zu den existenziellen Erfahrungen im Leben, auch in Ihrem Leben, Frau Özdamar. Und vielleicht liegt darin ja eine Annäherung an Ihr Werk, liebe Frau Özdamar. Denn um Grenzen, um die geht es in Ihrem Leben – und in Ihrem gesamten künstlerischen Schaffen“, so der Bundespräsident. „Sie haben viele Grenzen überschritten und überwunden: geographische, politische, aber auch kulturelle, ästhetische und auch sprachliche.“ Über die Verbindung zu Friedrich Schiller sagte er: „Dieser junge Mensch floh hierher nach Mannheim, um Unfreiheit, Willkür und Haft zu entkommen – erstaunliche Parallelen. Auch der noch vollkommen unbekannte Friedrich Schiller überwand damals Grenzen, geographische, in einem Deutschland der Kleinstaaten, aber auch ästhetische und sprachliche – mit seinem hier uraufgeführten Erstlingswerk ‚Die Räuber‘.“
Auch auf Özdamars Sprachgewalt ging der Bundespräsident ein. „Sie spielen mit eigener Erinnerung und literarischer Erzählung und lassen mit der Sprache etwas ganz Neues entstehen: mit Ihrer sehr eigenen, funkelnden, poetischen, traurigen und sehr komischen, kurzum Ihrer geradezu überbordenden Sprache!“ Er fuhr fort: „Deutsch, das ist für Sie, liebe Frau Özdamar, die Sprache, in der, wie Sie es so wunderbar beschreiben, die Wörter keine Kindheit für Sie haben. Und doch entscheiden Sie sich für diese Sprache, mit einer Radikalität, die wir alle nur bewundern können.“ Die Preisträgerin wohne in der deutschen Sprache „und das so meisterhaft wie nur wenige, deren Muttersprache Deutsch ist“. Sie habe damit viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Deutschland inspiriert und ihnen Mut gemacht, deren Muttersprache ebenfalls nicht Deutsch sei und deren Werke heute die deutsche Literatur bereicherten, so der Bundespräsident.
Emine Sevgi Özdamar gab in ihrer Dankesrede Einblicke in ihre Kindheit in der Türkei. Sie sei in der „alten und heißen Stadt“ Malatya geboren. Später kam sie nach Istanbul und ging mit ihrem Bruder am liebsten ins Freilichtkino, „um zu lachen oder zu weinen“. Während einer Tuberkulose-Erkrankung mit zehn Jahren habe sie angefangen, Gedichte zu schreiben. Ihr Onkel, der Abgeordneter war, habe der Mutter daraufhin empfohlen, dem Mädchen Literaturklassiker zu kaufen. Zu diesen Klassikern habe „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller gehört. „Wilhelm Tell weigert sich den Gesslerhut zu grüßen und damit, sich untertänig zu verhalten. Es ist mir sehr sympathisch, dass Friedrich Schiller vor dem ersten Hut, den er nicht grüßen wollte, nach Mannheim geflohen ist.“
Der Schillerpreis – der bedeutendste Preis der Stadt Mannheim – ist mit 20.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre an Persönlichkeiten verliehen, die durch ihr Schaffen zur kulturellen Entwicklung in hervorragender Weise beigetragen haben. Er wird in Erinnerung an Friedrich Schiller verliehen, der von 1783 bis 1785 als Theaterdichter in Mannheim lebte und wirkte. Bereits 1782 rief die Uraufführung seines Stücks „Die Räuber“ im Nationaltheater Tumulte hervor. „Kunst und ästhetische Bildung als gesellschaftlichen Gestaltungsfaktor zu begreifen, ist etwas, das unser Selbstverständnis mit Schiller verbindet und mit dem Schillerpreis gewürdigt wird“, so Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz bei seiner Rede. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern des Schillerpreises zählen Friedrich Dürrenmatt (1958), Prof. Dr. Golo Mann (1964), Peter Handke (1972) und Lea Rosh (1990). Am 15. März 2022 hat der Gemeinderat der Stadt Mannheim beschlossen, Emine Sevgi Özdamar den Schillerpreis zu verleihen.