Eine Volks­feindin

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Dr. Stockmann hat herausgefunden, dass das Kurbad, das ihr selbst eine Anstellung und dem gesamten Städtchen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht, keimverseuchtes und krankheitserregendes Wasser führt. Das Bad muss geschlossen werden, sind sich zunächst alle einig – bis klar wird, was eine Schließung und Sanierung an Kosten mit sich bringt. Ökonomische Sicherheit oder politische Integrität?

Spätestens seit Christian Drosten wissen wir, dass man politische Entscheidungen nicht nur rein nach (natur-)wissenschaftlichen Fakten treffen kann: Der Virologe war stets darauf bedacht, zu betonen, dass er nur aus seiner ganz eigenen Warte beraten, nicht jedoch konkrete Vorschläge machen könne, dafür müsse man Expert*innen aus der Psychologie, der Wirtschaft und anderer Disziplinen hinzuziehen, zu Komplex ist die Gemengelage.
Als Ibsen sein Drama schrieb, am Ende des 19. Jahrhunderts, waren für das bloße Auge unsichtbare Keime noch schwerer zu begreifen als 2020 ein ebenso wenig sichtbares Virus – oder gar die Ursachen eines Klimawandels, vor dem uns bereits in den 1970er Jahren der Club of Rome warnte. Dr. Stockmann und ihr Bruder, der Stadtrat, zeigen im Kleinen, wie schwierig uns radikale Transformationen zum nachhaltigen Wohle der Gemeinschaft heute im Großen fallen. Denn bereits bei der Frage, wodurch sich das »Wohl der Gemeinschaft« definiert – ökonomischer Gewinn oder die Gesundheit der Kurgäste und das eigene reine Gewissen – zeichnet sich ab, dass sich augenscheinlich gemeinsame Ziele schneller voneinander entzweien als man »Kompromiss« sagen kann. Visionär*innen mit idealistischen Ideen haben es schwer, vor allem in demokratischen Strukturen, denn Demokratie bedeutet in letzter Konsequenz, auszuhandeln und abzuwägen: zwischen Ökonomie und Ökologie, Nachhaltigkeit und Gewinn, Integrität und Umsetzbarkeit. Und Demokratie bedeutet auch, dass gewissen Entscheidungen von der Mehrheit getragen werden müssen und dass Dilemmata entstehen, wenn diese Mehrheit nicht mitgenommen wird auf die Reise komplexer Transformationsprozesse, die auf kurze Sicht unbequem erscheinen und auf lange Sicht die Zukunft eben jener Mehrheit retten.
Die Figuren der nicht näher benannten Vorstadtidylle ringen darum, was das Beste für ihr kleines Städtchen ist und verstricken sich dabei in eigenem Machstreben und der Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit.

Die Journalistin und Autorin Şeyda Kurt hat für die Inszenierung von Katrin Plötner am Nationaltheater Mannheim ausgewählte Texte der Hauptfigur neu interpretiert und leiht Dr. Stockmann in deren schleichendem Radikalisierungsprozess ihre messerscharfe Sprache.

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