"Der Herr Stadtschulrat": Ein gestrenger, gleichwohl beliebter Pädagoge
"Mannheimer Schulmodell" von Anton Sickinger macht Furore bis nach Amerika und Japan
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts machte ein Mannheimer Schulsystem Furore. Das „Mannheimer Modell“ schlug Wellen in ganz Europa, wurde bekannt bis in die USA und Japan. Sein geistiger Vater war Dr. Anton Sickinger – ein begnadeter Pädagoge, gestrenger Schulrat und gütiger Mensch.
Das Mannheimer Modell gilt noch heute als der Bahnbrecher moderner Pädagogik. Sickingers Grundgedanke „Nicht allen das Gleiche, sondern jedem das Angemessene“ führte die individuelle Förderung der Schüler ein. Dass Mannheim voll und ganz hinter seinem großen Schulrat und seinen „Experimenten“ stand, hat der Stadt großes Lob eingebracht.
Der 1858 in Harpolingen bei Bad Säckingen geborene Joseph Anton, Sohn eines Lehrers, besuchte als Junge Schweizer Schulen. Später, als Erwachsener, beschäftigte er sich intensiv mit den Ideen Pestalozzis, des großen Schweizer Erziehers und Sozialreformers. Der hatte Anfang des 19. Jahrhunderts insbesondere Einrichtungen für arme Kinder geschaffen. Nach seinem Staatsexamen an der Universität Heidelberg wurde Sickinger zuerst Lehrer an einem Karlsruher Gymnasium, dann Gymnasialprofessor in Bruchsal. Im Sommer 1895 holte Mannheims Oberbürgermeister Otto Beck den 37-Jährigen als Leiter des Volksschulrektorats in die Quadratestadt. Was der Pädagoge vorfand, war ernüchternd. Achtzig Prozent aller schulpflichtigen Kinder besuchten damals die Volksschule, doch lediglich ein Drittel der Jungen und ein Fünftel der Mädchen erreichten die achte Klasse. Sehr schnell erkannte der neue Schulrat, woran das lag.
Es war die Zeit, als Mannheim aufblühte zu einer Industrie- und Handelsstadt; aus allen Regionen zogen Arbeiterfamilien hierher. Innerhalb kurzer Zeit vervierfachte sich die Bevölkerungszahl: Hatte die Quadratestadt 1850 rund 25 Tausend Einwohner, waren es Ende des 19. Jahrhunderts ganze 100 Tausend. Der sprunghafte Bevölkerungsanstieg führte aber auch zu angespannten sozialen Verhältnissen. Leidtragende waren besonders die Kinder, denen in vielen Fällen der häusliche Rückhalt fehlte. In seiner ersten Denkschrift von 1899 kritisiert Sickinger den realitätsfernen schulischen Lehrplan. Er fordert, sowohl „für die zuwandernde als auch die einheimische Schülerbevölkerung“ günstigere Bedingungen zu schaffen.
Auf Basis der treffenden Analyse reformierte Sickinger das Schulsystem, und zwar höchstpersönlich. Dabei reklamierte er methodische Qualitäten, die verblüffend aktuell anmuten: „Die für das praktische Leben wichtigsten Bildungsstoffe müssen in der Schule intensiver behandelt werden. In der Schule muß mehr Zeit gewonnen werden für die Erziehung der Schüler zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit.“
Sein Modell: Für die schwachen Schüler richtete Sickinger 1901 zwei Züge ein. Die eigentlichen Hilfsschulen – für Kinder mit wirklichen geistigen Defiziten. Der andere Zweig war Knaben und Mädchen vorbehalten, die lediglich in ihrer Entwicklung gehemmt waren. Auch nach oben differenzierte Sickinger: Er ergänzte die letzte Volksschulklasse um eine Förderklasse für besonders begabte Kinder. Hier konnten die Mädchen und Jungen eine Fremdsprache lernen, wer gut zeichnete, besuchte Fortbildungskurse. Den Kindern stand sogar offen, über die Förderklasse in die „Realanstalt einzutreten“.
Als Sickinger das Mannheimer Modell 1904 auf dem internationalen Schulkongress in Nürnberg vorstellte, erkannten die Pädagogen, welch fortschrittliches und praktikables System der Mannheimer Schulrat entwickelt hatte: Die Länder Hessen und Sachsen sowie 150 deutsche und österreichische Städte übernahmen das Mannheimer Schulsystem. Amerikaner und Japaner zeigten großes Interesse.
Besonderen Wert legte der Oberschulrat auf Sport, damals noch Leibeserziehung genannt, überhaupt auf die leibliche und seelische Befindlichkeit seiner Schützlinge. Für bedürftige Kinder richtete er eine Schulspeisung ein, Brausebäder wurden in den Schulen installiert, 1905 setzte Sickinger einen hauptamtlichen Schularzt ein. Der Clou: 1922 nahm ein Schulpsychologe in Mannheim seinen Dienst auf – der erste in Deutschland überhaupt.
So viel Herz er für seine Kinder hatte, im Auftreten war er streng, der „Herr Stadtschulrat“. Der Journalist Karl Seyfried, ein Schüler Sickingers, erzählt in einem Artikel von 1958: „Der Herr Stadtschulrat mit seinem locker zurückgekämmten Haupthaar, dem mäßig langen gepflegten Vollbart und dem etwas finsteren Blick war bei Lehrern und Schülern eine gefürchtete Persönlichkeit. Trotzdem war er überall sehr geachtet und beliebt.“ Dabei vergaß er nie seinen pädagogischen Auftrag. 1915 stellte er sich auf der Unteroffiziersschule in Ettlingen Landsturmleuten mit den Worten vor: „Ich heiße Sickinger. In Friedenszeiten werde ich mit 20.000 Mannheimer Schulkindern fertig, mit euch Kerlen werde ich auch noch fertig werden!“ Am 3. August 1930 starb der Herr Stadtschulrat. So musste er nicht mehr miterleben, wie sein über Deutschlands Grenzen hinweg vorbildhaftes Schulsystem von der braunen Diktatur verboten wurde.