Mannheimer Julius „Uss“ Hatry konstruiert erstes Raketenflugzeug der Welt
"Feuerspeiend wie ein Komet und in weißen Dampf gehüllt"
Es ist der 30. September 1929. Ein Reporter des Generalanzeigers beschreibt, was da auf dem Frankfurter Flughafen vor sich geht: „Ein dröhnender Knall. Feuersprühend und in weißen Dampf gehüllt rast der Katapult nach vorn. Für eine Sekunde steht das Herz still und der Atem stockt. Wird es gelingen? Ein noch halb beklommener Freudenschrei aus allen Herzen – das Flugzeug steigt wirklich frei in die Luft, feuerspeiend wie ein Komet.“
Der damals gerade einmal zwanzig Jahre alte Student hat es der Flugindustrie, der ganzen Welt gezeigt. Denn Julius Hatry, liebevoll „Uss“ genannt, entfacht den Funken, durch den Jurij Gagarin als erster Mensch in den Weltraum vorstößt und Neil Armstrong den Mond betritt. Dabei war der 1909 in den Quadraten geborene Mannheimer Bu ein typisches Kind seiner Zeit – mit seinem ruhelosen Forschergeist und dynamischen Fortschrittsglauben, dem kreativen Scharfsinn. Allerorten machten sich damals Tüftler und Entwickler daran, die Technik zu erproben. Ferne Utopien wurden greifbare Schöpfungen. Und: Der mobile Mensch war nicht mehr aufzuhalten. Auch das Weltall wollte erobert, Zeit und Raum überwunden werden.
Rasant startet Julius bereits ins Leben – mit drei Jahren läuft der Junge auf Skiern, fährt später internationale Erfolge als Rennläufer ein. Sein Kindheitstraum: „Sich wie ein Vogel leicht in die Luft zu erheben“, zitiert ihn Prof. Lothar Suhling, früherer Direktor des TECHNOSEUM - Landesmuseum für Technik und Arbeit in der Veröffentlichung „Badische Tüftler und Erfinder“. Kein Wunder, dass sein enormes Lebenstempo den Jungen nicht mehr in der Schulbank hält. Seine Eltern ermöglichen ihm Privatunterricht, 1927 macht er am Mannheimer Tulla-Gymnasium extern das Abitur, beginnt mit seinem Ingenieurstudium in München. Parallel legt er bereits – innerhalb kürzester Zeit – die C-Prüfung für den Segelflug ab, ist damit der erste badische Segelflieger mit dem begehrten Schein. Dort, in der Segelflugschule Rossiten in Ostpreußen, wird er nun Fluglehrer, konstruiert und baut große Flugzeugmodelle. Und: Er entwickelt in der Kurischen Nehrung die „Wasserratte“, ein Wassersegelflugzeug mit bootsähnlichem Rumpf und hochgezogenem Leitwerk.
Segelflug, das war das Gebot der Stunde. Der Grund: Im Nachkriegsdeutschland war der Bau von Motorflugzeugen untersagt. Doch nach und nach lockerten die Alliierten das Verbot, zudem hatte bereits die Idee Raum gefasst, Raketen zum Flugzeugantrieb einzusetzen. Weltweit laborierten namhafte Wissenschaftler und Ingenieure am raketengetriebenen Flugobjekt. Die Ergebnisse waren aber eher theoretisch: bei bemannten Tests trudelten die Maschinen in der Luft, gingen schließlich zu Bruch. Hatrys Stunde war gekommen. Aus seiner mathematischen Ableitung folgert er: Für einen stetigen Aufstiegswinkel des Flugzeugs darf der Raketenschub das Fluggewicht nicht übersteigen. Als Alexander Lippisch von der Rhön-Rossitten-Gesellschaft (RRG) ihn im April 1929 beauftragt, ein bemanntes Raketenflugzeug zu bauen, ist der junge Konstrukteur nicht mehr zu bremsen.
Auf ihn aufmerksam geworden war auch Fritz von Opel. Der Juniorchef der Opel-Werke in Rüsselsheim war bekannt als waghalsiger Flieger, wurde belächelt als sensationslustiger Sportsmann. Auf Drängen von Opels, auch um seine Arbeit zu finanzieren, verkauft Hatry seine RAK I an den Industriellen. Dann schuftet er über Monate an der Fertigstellung. Am 17. September ist der große Tag. Hatry startet seine Maschine mithilfe eines Katapults. Drei Raketen von je 350 Kilopond Schub und vier Sekunden Brenndauer treiben das Flugzeug zum Abheben. Pilot Hatry zündet die Flugraketen und legt mit 100 Stundenkilometern in zehn Meter Höhe rund 350 Meter zurück. Tatsächlich, er ist gelungen – der erste bemannte Raketenflug der Welt. Klein allerdings ist der Kreis der Beobachter. Die große öffentliche Schau hatte von Opel sich selbst vorbehalten. Damit nicht genug. Am 30. September erlebt Hatry eine böse Überraschung. Der Publicity-bewährte „schnelle Fritz“ hatte Hatrys Namen auf dem Flugzeug kurzerhand mit „Opel-Sander-RAK I“ übermalt. Als die sensationelle Nachricht vom ersten bemannten Raketenflug um die Welt rast, rangiert der Name des Konstrukteurs unter ferner liefen.
Hatrys Geniestreich geriet fast in Vergessenheit. Aber nur fast. Über fünfzig Jahre später, 1983 beim Start des Spacelab, wird Hatrys RAK I der Weltöffentlichkeit als Prototyp des Space-Shuttle vorgestellt. „Mit dem Hatry-Flugzeug ist Ihnen der Durchbruch auf dem Gebiet der raketengetriebenen Luftfahrt gelungen“, würdigte ihn Mannheims Oberbürgermeister Gerhard Widder. „Als Mannheimer macht es mich stolz, daß Ihre Arbeit noch heute internationale Anerkennung findet.“ Überhaupt hat Mannheim einen Ehrenplatz in der Geschichte der Luftfahrt, man denke nur an das erste Luftschiff von Schütte-Lanz, das 1911 auf Jungfernflug ging.
Hatry arbeitet weiter an seiner Entwicklung, wird aber von den Nazis kaltgestellt – er hatte einen jüdischen Großvater. „Uss“ ist enttäuscht, dass „eine in jugendlichstem Alter vielversprechende Arbeit nicht ihren krönenden Abschluss“ fand. Doch er bleibt sich selbst treu – und startet neu. Mit nicht weniger Elan und Begeisterung dreht er Wintersportfilme – er ist ja ein ausgezeichneter Skiläufer –, wird Drehbuchautor und Dokumentarfilmer. Schließlich zieht es ihn zu Theater und Spielfilm. In den Fünfzigern übernimmt er die Mannheimer Immobilienfirma des Vaters. Am 17. November 2000 stirbt „Uss“ Hatry, mit 93 Jahren. Eine Nachbildung seiner RAK I ist übrigens im TECHNOSEUM zu bewundern.