Peter Kurz: Gedenken heute

Verpflichtung aus der Vergangenheit und Verantwortung für die Zukunft

Der Glaskubus in den Planken wurde zur Erinnerung an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Mannheim errichtet. Er ist damit eines der Erinnerungszeichen an die Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden, die gerade in den letzten Jahren in der Bundesrepublik entstanden sind. Viele der Grundgedanken für diese Erinnerungszeichen sind ähnlich. Im Gegensatz zur Mahnmalarchitektur an anderen Orten, die unmittelbar den Schrecken und die Monstrosität des Verbrechens zum Ausdruck bringen wollen, ist Gegenstand des Mannheimer Projekts vor allem die Erinnerung an die ermordeten Menschen und ihr Leben in unserer Stadt. Es unternimmt den Versuch, im Herzen der Stadt den Verlust als dauerhafte und gestaltende Größe unserer Gegenwart zu thematisieren.

In Mannheim wurde mit der Ermordung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ein bedeutender Teil der wenige Jahrhunderte alten Geschichte der Stadt ausgelöscht. Mannheim besaß vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine der lebendigsten und stärksten jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich. Mit ihren 6 972 Mitgliedern war die israelitische Glaubensgemeinschaft Mannheims 1925 zahlenmäßig die stärkste in Baden; der Ruf ihrer Einrichtungen drang über die Grenzen Mannheims hinaus. Die 1855 vollendete neue Hauptsynagoge konnte sich mit vergleichbaren Bauten in Berlin und anderen europäischen Metropolen durchaus messen. Auch im urbanen Aufschwung Mannheims nahm die jüdische Gemeinde seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts einen gleichwertigen Platz neben den christlichen Religionsgemeinschaften ein. Die Namen von Juden verbinden sich mit führenden Industrieunternehmen, bedeutenden sozialen und kulturellen Stiftungen, finden sich in Parteigründungen jeder Couleur und in politischen Gremien von der gemeindlichen Selbstverwaltung bis in den Reichstag wieder.

Die Wiedergründung der jüdischen Gemeinde nach der nationalsozialistischen Verfolgung erfolgte mit nur 120 Mitgliedern. Fast alle, die in großer Zahl großzügig und aktiv den sozialen und kulturellen Fortschritt Mannheims befördert hatten, waren ermordet oder dauerhaft vertrieben worden. Die Zerstörung auch der baulichen Zeugnisse der jüdischen Kultur in Mannheim war nahezu vollständig. Die wenigen Überreste nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fielen in den Nachkriegsjahren der Spitzhacke zum Opfer. Dieser Auslöschung der Geschichte in Bild und Gegenwart der Stadt galt es etwas entgegenzusetzen. Auch wollten wir die Namen der Opfer nennen. Die Namen stehen für Menschen mit Gesichtern und Lebensgeschichten, die wir nicht vergessen wollen. Unser Gedächtnis soll nicht allein die Namen der Täter kennen.

Zugleich ist die Gedenkskulptur und ihr Entstehungsprozess Teil und – so hoffen wir – weiterer Anlass für die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Obwohl mit der Zeit die letzten Augenzeugen versterben und zwei Generationen zwischen dem grausamen Geschehen und dem Heute liegen, verliert das Thema nicht an Präsenz. Der langsame, schmerzhafte Prozess der Bewusstwerdung, der die Nachkriegsgesellschaft durchzieht, von der unvollendeten Entnazifizierung über die eigentliche juristische Aufarbeitung der Verbrechen in den sechziger Jahren, über das Aufbegehren einer jungen Generation bis zur Entstehung einer wirklichen Gedenkkultur in den letzten Jahrzehnten – dieser Prozess ist noch immer nicht an sein Ende gekommen und wird es wohl nie. Sei es im Zusammenhang mit immer noch nicht abgeschlossener strafrechtlicher Verfolgung der NS-Täter, liegen gebliebenen Wiedergutmachungsansprüchen oder der moralischen Auseinandersetzung mit der historischen Schuld selbst – die Öffentlichkeit wird ständig von Themen bewegt, die im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen. Auch der sechzigste Jahrestag der Befreiung von Auschwitz brachte eine ganze Reihe von Debatten über den Holocaust und seine Konsequenzen für uns Nachlebende mit sich. Dem französischen Staatspräsidenten diente die Jährung als Anlass, im Pariser Stadtviertel Marais Museum und Gedenkstätte des Mémorial de la Shoa der Öffentlichkeit zu übergeben. Die 76 000 Namen und Geburtsdaten der französischen Opfer des Holocaust wurden in eine Mauer der Namen aufgenommen.

Bislang 2 262 Namen nennt die Liste der Mannheimer jüdischen Opfer, und sie ist noch nicht als vollständig anzusehen. Das Mannheimer Gedenkzeichen vermittelt so auch einen Eindruck von der Unerbittlichkeit des Mordunternehmens bezüglich unserer engeren Heimat: Mehr als ein Viertel der Mannheimer Juden wurde Opfer der Rassenverfolgung, wenn man die Zahl der Ermordeten auf die etwa 8 000 Menschen bezieht, die von 1933 bis 1940 in Mannheim lebten oder geboren wurden. Sie wurden gemordet ohne Achtung ihres Alters oder Geschlechts, Kinder, Frauen und Männer ohne Unterschied. Alle lebten in Mannheim, alle wurden Opfer des Nationalsozialismus und starben unter den Stiefeln von Nazi-Horden, in einsamer Selbsttötung aus Furcht oder Verzweiflung, während ihrer Deportation oder in den Internierungslagern, am Ende zu Tausenden in den Vernichtungslagern des Ostens. Ihre Mörder waren auch Nachbarn, wie uns das Beispiel von Rudolf Höß drastisch vor Augen führt: Der Lagerkommandant von Auschwitz lebte als Kind in unserer Stadt. Vieles harrt auch nach mehr als 60 Jahren noch der Aufklärung – beispielsweise der Anteil der Mannheimer Bevölkerung und der Mannheimer Verwaltung an der Verfolgung. Nicht weil wir im Sinne einer „Vergangenheitsbewältigung“ nach individueller Schuld suchen, sondern weil die Auseinandersetzung mit der Gefährdung und Brüchigkeit unserer Zivilisation eine ständige Herausforderung bleibt.

Alles was geeignet ist, diese Auseinandersetzung zu erschweren, missachtet nicht nur die Opfer, es gefährdet unsere Gegenwart und Zukunft. Dies gilt insbesondere für die Versuche der Verharmlosung des nationalsozialistischen Unrechts aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Missratene Reden im Bundestag, die Einlassungen Martin Walsers, die Predigt Kardinal Meissners zum Jahresbeginn 2005: Die Kette der Vergleiche und Relativierungen reißt nicht ab. Es sind Vergleiche und Relativierungen gegenüber einem Geschehen, das die negativen Möglichkeiten des Menschen zu einer absoluten Grenze geführt hat. Auschwitz – das ist der dunkelste Ort der Erde. Die deutsche Nation, entstanden als Teil der „abendländischen Kultur“, richtete ihre ganze Kraft auf die Vernichtung von Völkern und Gruppen der Bevölkerung, wollte auch die Erinnerung an sie tilgen und verwertete sogar die Körper von Getöteten wirtschaftlich. Das ist der ungeheuerliche Sachverhalt.

Jedes Wort der Relativierung dieses – weder nach 60 noch nach 100 Jahren fassbaren – Geschehens kündet von einem Unverständnis und einer Verwirrung moralischer Kategorien, die zornig macht. Ruth Klüger schildert in ihrem Erinnerungsbuch Weiter leben wie sie in den Baracken von Birkenau, dem eigentlichen Vernichtungslager, auf eine Studienrätin trifft, die – so lesen wir – nach ihrer Ankunft in Auschwitz und angesichts der rauchenden, flammenden Kamine mit Überzeugung dozierte, dass das Offensichtliche nicht möglich sei, denn man befinde sich im 20. Jahrhundert und in Mitteleuropa, also im Herzen der zivilisierten Welt. Ruth Klüger entgegnet der Mitgefangenen in ihrem Buch mit dem Hinweis auf den Zivilisationsbruch, der Frage nach der Verbindlichkeit zivilisatorischer Erfahrung. Es war eben das Volk, das Schiller und Goethe hervorgebracht hatte, das nun mit dieser Zivilisation gebrochen hatte.

Sollte denn diese mitteleuropäische Welt gar nicht zivilisiert gewesen sein? Ist sie es auch heute noch nicht? Oder haben wir die Chance, aus der Erfahrung heraus sie so zu gestalten, dass Auschwitz nicht mehr möglich sein wird?

Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen, hat der Auschwitz-Überlebende Primo Levi gesagt. Die einzige Chance dieses Wieder-Geschehen zu verhindern, ist die Erinnerung und das Bewusstsein von dieser sich nie schließenden Wunde unserer Geschichte. Wir gedenken somit nicht allein der Opfer, sondern auch um unserer selbst willen. Die Unterstellung gegen eine Kultur des Gedenkens lautet, es gehe darum, uns Deutschen dauerhaft ein Büßergewand anzuziehen. Fast das Gegenteil trifft zu: Es geht darum, der heutigen Generation ein selbstbewusstes Handeln in Verantwortung vor der Geschichte zu ermöglichen. Die Zukunft Deutschlands in der Welt ist nicht positiv zu gestalten ohne das Wissen um die Geschichte und ihre Wirkungsmacht in unsere Gegenwart hinein.

Das glaubwürdige Nie wieder ist allein zukunftssichernd. Die Denkmuster und Haltungen, die in der Debatte gegen das Gedenken immer wieder aufscheinen, sind dagegen genau die, die uns schon einmal in die Katastrophe führten: das Gefühl der Benachteiligung Deutschlands; das Gefühl, nicht fair behandelt zu werden. Im Kern handelt es sich um mangelndes Selbstbewusstsein im unmittelbaren Wortsinne. Wer die deutsche Katastrophe nicht annehmen kann, kann auch die positiven Traditionen Deutschlands nicht glaubwürdig vertreten. Nicht zuletzt darum geht es bei der Gedenkskulptur.

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