Karl Drais – Urvater des Individualverkehrs
Zweirad-Erfindung war Urknall der Mobilität ohne Pferd
Individualverkehr verursacht Klimaänderung: das gilt als ausgemacht. Dass aber umgekehrt eine Klimaänderung den modernen Individualverkehr auslöste, ist neu. „Was also ist die gemeinsame Wurzel von Frankenstein, Stuttgarter Landwirtschaftsfest und Zweirad?“ Das fragt Hans-Erhard Lessing in seinem Buch Automobilität – Karl Drais und die unglaublichen Anfänge. Seine Antwort – die katastrophale Klimaverschlechterung des Jahres 1816/17 nach dem vulkanischen Super-Gau im Jahr davor. Vor Bali war der Vulkan Tambora in einer Stauberuption explodiert, die dort 80.000 Insulanern den Tod brachte, dann die nördliche Hemisphäre erreichte und für einen Schneesommer sorgte. Der resultierende Ernteausfall hatte entsetzliche Hungersnot und Pferdesterben zur Folge, und in Bengalen brach die Cholera aus, die Jahre später Europa erreichte.
„Genau für diese Notlage war Karl Drais’ zweirädrige Laufmaschine gedacht, ein vom Haferpreis unabhängiger Ersatz für Pferde“, erläutert Lessing in seiner Drais-Biografie. Ohne diesen Einfall würden wir womöglich noch heute den Bahnhof mit einem Pferd verlassen, einem elektronisch gesteuerten vielleicht, aber eben mit einem Pferd – wie derzeit noch bei den Amischen in Pennsylvania. Dann braucht man nur noch zu sehen, dass das Fahrrad der Vater des Automobils ist – die Mutter ist die Kutsche –, um in Drais den Urvater des modernen Individualverkehrs zu erkennen und die Zweirad-Erfindung als Urknall der Mobilität ohne Pferd.
Holzzweiräder bis nach Amerika tausendfach nachgebaut
Im Gegensatz zur internationalen Anerkennung des Erfinders Karl Drais besteht in Deutschland noch enormer Aufklärungsbedarf über seine Bedeutung. Der politische Grund dafür wurde erst jetzt entdeckt: Der Erfinder hat sich im Vormärz zum imperativen Mandat bekannt, also der Bindung des Abgeordneten an den Mehrheitsentscheid seiner Wähler. In der Badischen Revolution 1849 legte er seine Adelstitel öffentlich ab. Seitdem wurde Drais als Staatsfeind mit krimineller Energie verfolgt und auch noch nach seinem Tode von Monarchisten gezielt lächerlich gemacht. „Es entstand das Zerrbild eines verrückten Clochards, der seine plumpe Erfindung einer widerstrebenden Mitwelt förmlich aufnötigen musste“, so Lessing. Das Gegenteil war der Fall, wie neue Quellen belegten: Die leichten Holzzweiräder wurden bis nach USA oder Kalkutta tausendfach nachgebaut, seit Sinken des Haferpreises aber überall mit harten Geldstrafen verboten, weil man nur auf den plattenbelegten Bürgersteigen damit fahren konnte. Die Fahrbahn der Fuhrwerke war zu zerfurcht, um balancieren zu können.
Karl Drais, Erfinder des Laufrads
Die Drais-Biografie von Lessing zeigt erstmals das jüngst entdeckte, menschenwürdige Porträt anstelle der sattsam bekannten Karikaturen. Die Frage, warum Drais trotz Erfindung des famosen Zweirads, das die Evolution des pferdelosen Individualverkehrs bis hin zum Automobil und Aeroplan einleitete, als Schießbudenfigur überliefert wurde, war nicht schlüssig geklärt. Viele Veröffentlichungen, etwa die Biografie von Hermann Ebeling laufen darauf hinaus, dass Drais ein zwar progressiver, aber immer noch linientreuer Monarchist gewesen war. Ein neuer Fund 2003 brachte die entscheidende Wende: „Der Reichsfreiherr von Drais hat in der Karlsruher Zeitung vom 12. Mai 1849 seine Adelstitel öffentlich abgelegt und wollte nur noch Bürger Karl Drais sein.“ Schlagartig passten jetzt alle Puzzleteile zusammen. Denn nun wurde auch seine schon im Mannheimer Vormärz öffentlich geäußerte Forderung nach dem imperativen Mandat glaubhaft.
Ohne Adelstitel als Staatsfeind verfolgt
Jetzt wurde plausibel, dass Drais seit 1837 in Mannheim politischen Verfolgungen durch reaktionäre Monarchisten bis hin zum Mordanschlag ausgesetzt war, die bisher immer gern augenzwinkernd zu seinen Lasten als Wirtshausschlägereien eines Suffkopfs erzählt wurden. Die Akten seiner gewonnenen Prozesse hingegen hat man verschwinden lassen. Vollends existentiell wurden nach Niederwerfung der badischen Revolution die Repressalien durch die preußische Besatzung in Karlsruhe, die Drais entmündigen lassen wollte und seine Pension zur Begleichung der Revolutionskosten restlos beschlagnahmte. Noch anlässlich seiner Umbettung in den neuen Friedhof wurden Karikaturen auf Flugblätter in Umlauf gebracht, denn die Monarchie endete in Baden ja erst 1918. Die gewollte Lächerlich- und Verächtlichmachung Karl Drais’ durch die nachfolgende Generation war schmerzlich, schildert ein Historiker das Los der im Land gebliebenen Revolutionäre.